Die Geschichte der sakralen Musik

von Petra Roeder

[Update: 21. Januar 2007]

 

Die Geschichte der sakralen Musik ist für viele Jahrhunderte die Geschichte der Vokalmusik. Spät erst tritt die Instrumentalmusik hinzu und dann auch nur untergeordnet. Offensichtlich bedarf jeder Kultus des Wortes. Zunächst einmal stehen sich heidnische und jüdische Sakralmusik gegenüber und entwickeln sich parallel, sie haben die gleichen Anregungen und Ausgangslagen, demzufolge unterscheiden sie sich lediglich im Text voneinander. Für die frühe Antike und für die hellenistische Antike ist die heidnische Sakralmusik weit umfangreicher in zahlreichen Klage- und Heldenliedern dokumentiert, bei Beerdigungen, bei Tempelriten und höfischen Feierlichkeiten gesungen und vorgetragen. Einzige Quelle für die jüdische Sakralmusik ist das Alte Testament, wobei das Mirijam- und das Moselied die ältesten aufgezeichneten Lieder sind. Das Metrum (die Abfolge von schwerer und leichter Betonung), prägendes Element, so wie die Diasthematik (der Tonhöhenverlauf, z.B. eine Tonfolge oder eine Melodie) und Ambitus (Tonumfang, z.B. eine Oktave) sind ortsabhängig und kulturell bedingt. Die uns vertraute Oktave und die die Oktave füllenden sieben Töne sind dabei seltenst gebraucht worden. Auch die Pentatonik ist relativ jung, zur Zeit des Alten Testaments dürfte sie noch nicht erklungen sein. Über instrumentale Begleitung kann nur soviel gesagt werden, als es sie gegeben hat, ebenfalls gesichert sind instrumentale Zwischenspiele. Wie jedoch diese gestaltet waren und wie mehrstimmig der Gesang ausgeführt war, läßt sich nicht mehr rekonstruieren, da keine Notenschrift bekannt ist. Überliefert sind uns bislang nur Beschreibungen der antiken Instrumente. Rekonstruieren läßt sich die Vortragsweise: ein Vorsänger wird von einem Chor abgelöst oder zwei Chöre singen sich wechselseitig zu. Hier zeigt sich, daß responsorial und antiphonal ausgeführte Gesänge unserer heutigen Liturgie in der Antike wurzeln und durchaus nicht auf den jüdischen Kulturbereich beschränkt sind, sondern in der gesamten antiken Welt gebräuchlich waren.

Die christliche Kirche begann unter Juden und so ist es selbstverständlich, daß das synagogale Liedgut in die urchristliche Gemeinde getragen wurde. Heute noch gebrauchte Begriffe wie Psalmodie gehen auf die Tradition des Psalmensingens im jüdischen Gottesdienst zurück. Die hellenistische Antike prägte den christlichen Gottesdienst zunehmend, drängte die jüdischen Elemente in den Hintergrund, so wurden z.B. die griechischen Modi (ein Modus ist vergleichbar einer Tonart) und die Instrumente der hellenistischen Antike übernommen. In seiner neuen Gestalt wurde die christliche Sakralmusik einzig bedeutende Sakralmusik, als das Christentum Staatsreligion wurde. Zwar lebte die heidnische Sakralmusik v.a. während der Völkerwanderungszeit lebendig fort, da die Entwicklung der heidnischen Sakralmusik sich von der christlichen Sakralmusik nur durch einzelne kulturellen Unterschiede bemerkbar machte, wie in der frühen und hellenistischen Antike weitgehend parallel zur christlichen Sakralmusik eine Entwicklung erfuhr, bleibt dazu nichts zu sagen. Zudem waren die eingewanderten Völker schnell missioniert und brachten ihre kulturellen Bräuche und liturgischen Abweichungen von der Liturgie der hellenistischen Antike in das Christentum ein, das dadurch vielfarbig und lokal unterschiedlich wurde. Von einer zentralistischen Religion kann also beim Christentum nicht gesprochen werden.

Auch für die Dokumentation der Sakralmusik gilt eine durch die Völkerwanderung bedingte Lücke von ca. 250 Jahren. Um ca. 600 n.Chr. setzt die Dokumentation wieder lückenlos ein. Jetzt steht die Liturgie, die bis zum zweiten Vatikanum Gültigkeit hat. Danach sind Hymnen, Tropen, Sequenzen Passion, Oratorien und natürlich die gesungene Messe Bestandteil der christlichen Liturgie und damit der Sakralmusik. In die Liturgie eingebettet war ursprünglich auch der Conductus, der im 12. Jahrhundert seine Blütezeit als Geleitgesang für den Lektor beim Gang zum Lesen war. Später wurde der Conductus für außerkirchliche Staatsanläße des Klerus ausgelagert. Die Bestandteile der Messe sind teilweise sehr alt (so das Sanctus, das um 120 n.Chr. bereits nachzuweisen ist oder das Kyrie, das als einziger Messbestandteil bis heute in griechischer Sprache abgefaßt ist), die meisten aber im 10. bis 13. Jahrhundert (als letztes das Agnus Dei) aufgenommen. Grund für die späte Festlegung der Messe sind die Streitigkeiten zwischen der Ost- und der West-Kirche. Auch die übrigen liturgischen Gesänge können auf eine langanhaltende Tradition zurückblicken, v.a. die Hymnen sind ununterbrochen seit Bestand der christlichen Kirche weitergetragen worden.

Der gesamte Reichtum der Sakralmusik, der die Völkerwanderungszeit überlebt und nun in die Liturgie Eingang gefunden hat, wird von Papst Gregor I - oder Gregor der Große (540-604, Papst ab 590) um ca. 600 n.Chr. schriftlich fixiert, daher der Name gregorianischer Choral.Der gregorianische Choral ist eine einstimmige liturgische Weise und Bestandteil aller mittelalterlichen Musikgattungen, der profanen wie der sakralen, sowie des Kirchenliedes, das für die geistliche Erbauung während der Tagesarbeit vorgeschlagen wurde. Vielleicht wollte Papst Gregor verhindern, daß durch eine erneute Umwälzung der Gesellschaft wieder Traditionen verloren gehen, wie dies während der Völkerwanderung geschehen war. Die Modi, in denen die Choräle notiert sind, entsprechen denen der hellenistischen Antike, so die Namen, der Ambitus und die Diasthematik, allerdings hat sich ihre Notationsweise geändert und die Namen haben eine Umdeutung erfahren. Das war weniger willentlich geschehen als vielmehr aus dem Grund, als die antiken Modi nicht mehr selbstverständlich bekannt waren. Volkssprachliche Übersetzungen der liturgischen Gesänge und der Kirchenlieder gibt es nachgewiesen bereits um 800 n.Chr. in den Murbacher Hymnen, und es gilt als gesichert, daß Messen tatsächlich in der Volkssprache zelebriert wurden.

Eine wesentliche Umgestaltung der Sakralmusik wurde von Bernhard von Clairvaux (Abt von 1115 bis 1153) vorgenommen. Mit der Begründung, die authentischste apostolische Liturgie für sein Mutter-Kloster und sämtliche Tochter-Klöster (mehr als 300 Neugründungen durch Bernhard v. Clairvaux) in Anspruch nehmen zu wollen, legte er die Metzer Liturgie zugrunde. Weshalb in Metz und nicht in Rom die authentischste Liturgie zu finden war, hat den Grund, daß in Metz auch in früheren Jahrhunderten einzelne Personen auf der Suche nach der authentischsten Liturgie waren. Mit der Einführung einer einheitlichen Liturgie für mehr als 300 Klöster durch Bernhard von Clairvaux war zum ersten Mal eine Zentralisierung festzustellen, die sich allerdings nicht sehr starr ausmacht: ein Vergleich der verschiedenen Handschriften zeigt einige Unterschiede in der Diasthematik und dem Modus ein und der gleichen Weise.

Die gregorianischen Choräle sind auch in der profanen Musik verarbeitet worden, wie in den Carmina Burana z.B. deutlich wird. So wundert es nicht, daß im ausgehenden Mittelalter durch die Motette eine sakrale Weise aus ihrem Kontext gelöst und mit einem profanen Text versehen wird, eine Weise einmal also mit sakralem und einmal mit profanem Text besteht.

Mit der Reformation spaltet sich die Sakralmusik in die Protestantische und die Katholische, und wieder geht zudem die Sakralmusik motivisch ein in die profanen Werke. Ab der Reformation wird - v.a. bei der protestantischen - von der Kirchenmusik, nicht mehr von der Sakralmusik gesprochen. Während die protestantische Kirchenmusik als neue Gattung die Kantate erhält - deren bedeutendster Komponist Johann Sebastian Bach häufig eine Kantate einmal mit einem sakralen und einmal mit einem profanen Text versehen hat -, bleibt die katholische Kirchenmusik bis Mozart in ihrer um 1300 festgelegten Form bestehen. Mozart verbindet Opernelemente mit der Sakralmusik. Die eingeführten Elemente sind keine Formelemente als vielmehr dramatische Gestaltung. Eine Methode, die von den nachfolgenden Komponisten für katholische Kirchenmusik weitergeführt wird. Das katholische Kirchenlied gehört erst seit dem zweiten Vatikanum zur Liturgie, dagegen erfährt das protestantische Kirchenlied eine langandauernde Blüte und geht unter dem Namen Choral ein in profane und sakrale Werke bis in unsere Zeit. Nicht zuletzt die Kantate und die von J.S. Bach zur Kantate umgestalteten Gattungen der Passion und des Oratoriums leben vom Choral als wichtigem Bestandteil neben den Rezitativen, die exakt so wie die Rezitative in der Oper gestaltet sind, wobei das Rezitativ der Oper aus der mittelalterlichen Rezitationstradition in der Liturgie kommt. Der Choral greift auf den gregorianischen Choral zurück, ist aber immer mehrstimmig zu denken - wenn nicht von einem Chor ausgeführt, so doch zumindest (wie in der Hl. Messe meist der Fall) instrumental begleitet.

Die protestantische Kirchenmusik greift formal deutlich auf die Vorgaben aus dem Mittelalter zurück. Die katholische Kirchenmusik bis Mozart ebenfalls. Das Tridentiner Konzil um 1600 legt ausdrücklich seinen Schwerpunkt auf den gregorianischen Choral, wenn auch mehrstimmig bearbeitet. Palästrina (1525 oder 1526 bis 1594) und seine strenge Musik der Cantus-Firmus-Messen (wobei ein gregorianischer Choral als cantus firmus geführt wird), der Fugen (meist sogar in deren strengster Form, dem Kanon, gebraucht) und der Tenor-Messen (die Tenorstimme ist Hauptstimme), die das Wort in den Vordergrund stellen, werden vom Konzil als Ideal der katholischen Kirchenmusik gesetzt. Die durch Mozart begonnene Dramatisierung der katholischen Kirchenmusik durch Opernelemente setzten dem eine eigene Gestalt entgegen. Instrumente spielten eine wichtige Bedeutung, dramatische musikalische Affekte und Tonmalerei lassen den strengen Satz aufbrechen, der gregorianische Choral ist bestenfalls noch rudimentär verarbeitet. Das Wort wird zwar nicht überflüssig, aber es ist nicht mehr der wichtigste Bestandteil. Seit der Neuzeit besteht die Bestrebung, aus dem konkreten Alltag und der konkreten Erfahrung zur Abstraktion zu finden, eine Abstraktion, die sich nicht mehr erfahren sondern nur noch denken läßt. Das läßt die neue Möglichkeit zu, nonverbale Aussagen allgemeinverständlich zu machen. So konstituierte sich im 19. Jahrhundert im Cäcilianismus (die Hl. Cäcilia steht für diesen Namen Pate) eine Reformbewegung, die erneut einen Rückgriff auf Palästrina fordert, wie dies bereits das Tridentiner Konzil getan hatte.

Im 19. Jahrhundert begann auch das Phänomen, daß ursprünglich sakrale Musik, z.B. eine Messe, ein Oratorium, eine Passion, aus dem sakralen Bereich gelöst und in den Konzertsaal versetzt wird. Die Säkularisierung hat augenscheinlich gründlich stattgefunden. Das 20. Jahrhundert ist noch weitestgehend auf dem Stand des vorigen Jahrhunderts, ein sakrales Werk kann sowohl im Konzertsaal als auch im Gottesdienst erklingen. War es bis ins 19. Jahrhundert problemlos möglich, eine Weise einmal mit einem sakralen und einmal mit einem profanen Text zu gestalten, so kommt nun zusätzlich die Möglichkeit hinzu, ein sakrales Werk aus seinem Kontext zu lösen und als sakrales Werk in das profane Leben zu stellen. Offenkundig heiligt nur der Anlaß und die Bestimmung eine Weise. Zusätzlich haben die KomponistInnen des 20. Jahrhunderts die Möglichkeit, nonverbale musikalische Aussagen machen zu können, bis ins Detail weitergeführt: es gibt Werke, die ohne ein einziges verständliches Wort eine bestimmte Aussagekraft beanspruchen. Als Beispiel sei das Welt-Requiem aufgeführt, das 1997 in der Stuttgarter Liederhalle uraufgeführt worden ist und an dem Komponisten wie Wolfgang Riehm, Helmut Lachenmann u.a. mitgewirkt haben.

Die nach der Säkularisierung eingesetzte Möglichkeit, sakrale Musik als Konzert einem breiten Publikum vorführen zu können und die in der Neuzeit begonnene Möglichkeit, nonverbal eine Aussage machen zu können, haben auch Chancen, die nicht zu verachten sind. Auch im Konzertsaal kann eine geheiligte Atmosphäre entstehen, auch ohne den Knüppel der unmißverständlichen liturgischen Worte kann eine Person tief angerührt werden von einer rein instrumental ausgeführten biblischen Szene.

Petra Roeder

Literatur:
Hans Hickmann/Rudolf Walter, gregorianische Themen in nicht-gottesdienstlicher Musik des XX. Jahrhunderts (Heft 12 der Schriftenreihe "Kirchenmusik, eine geistig-geistlich Disziplin"), hrsg. von Rudolf Walter, Stuttgart 1983
Claire Maître, La Réforme cistercienne du plain-chant, Brecht (Belgique) 1995

Der aktuelle Titel von Petra Roeder:

Saxa et Libri, Bd. 10: Musik im Mittelalter

 
 
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